Ums böhmische Heimatrecht

von Franz Dimter

Es ist bekannt, daß nicht alle Tschechen die Zerstörung der österreich-ungarischen Monarchie gewünscht und betrieben haben und daß nur diejenigen Tschechen auf die Errichtung eines eigenen tschechischen Staates hingearbeitet haben, die weniger ihre tschechischen Volksgenossen betreuen als über die Njemci, die Deutschen, regieren und „es ihnen zeigen“ wollten. Nach Ansicht der tschechischen Nationalisten war die Geschichte ungerecht verlaufen, sie sollte revidiert, natürlich zu Gunsten dieser „Unterdrückten“ korrigiert werden.

Es war auch augenscheinlich. Hunderte westböhmischer Orte, die nachweislich slawischer Herkunft sind, waren zuletzt rein deutsche Dörfer, doch sie trugen nach wie vor ihr tschechisches Namenskleid. Auf diese Zeugnisse slawischer Vergangenheit verwiesen die tschechischen nationalen Schreier Jahr für Jahr Tag und Nacht: „Seht, sie haben unser Land germanisiert! Die Deutschen sind unsere Feinde, sie haben uns zurückgedrängt und heimatvertrieben!“

Es wäre falsch, wenn wir diese Sachlage übergehen wollten. Viele Orte des erweiterten Egerlandes tragen Namen, die ihnen ihre tschechischen Gründer gegeben haben. Lächerlich, wenn einer von uns in blinder Heimatliebe behaupten würde, Hassatiz oder Natschetin wären deutsche Wörter. Die ersten Deutschen, die z. B. nach Tschernahora, Murchowa oder Mirkowitz zugezogen waren, werden diese Ortsnamen reichlich spaßig, fast wie einen unaussprechlichen Witz empfunden haben. Freilich, mit der Zeit lernte auch die deutsche Zunge die fremde Aussprache, und wenn die Zunge dabei brechen wollte, wurde eben der verzwickte Name solange im Munde umgedreht, bis er abgeschliffen und für den deutschen Sprachgebrauch geeignet war. Das Abfeilen tschechischer Häkchen ging manchmal so weit, daß man es zuletzt den Überbleibsel kaum mehr ansah, woher es abstammte. Namen wie Metzling, Zemschen, Hostau und Meßhals wurden schließlich als deutsch empfunden, wenn man sich auch darunter nichts vorstellen konnte. Es war nicht immer ratsam, im deutschen Worowitz oder in Sirb zu sagen, diese Orte hätten tschechische Namen, die so viel bedeuteten wie Heide und Sichel. So gut hatten wir uns ans fremde Namenskleid gewöhnt, daß wir es schon als deutsche Tracht empfanden. Manchmal ging die Anlehnung eines tschechischen Ortsnamens ans Deutsche schon recht weit; es entstand wirklich ein richtiger deutscher Narme daraus, der nur mehr den Nachklang des tschechischen beibehalten, aber einen ganz anderen Sinn bekommen hatte. Schade, daß diese Eindeutschung nur auf Kosten eines „Bedeutungswandels“ geschehen konnte! Für den Heimatkundler war so eine „Geschichtsverfälschung“ jedoch kein Verbrechen, sie geschah im Sinne der deutsch-tschechischen Verschmelzung. Da denke ich vor allem an Muttersdorf – das sich aus Mutenin entwickelte und an Schüttarschen, an Roßhaupt, Wassertrompeten u. a. „voll eingedeutschte“ Namen, deren Inhalt ein ganz anderer geworden war.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir die tschechischen Ortsnamen nicht übernommen bzw. nicht beibehalten, sondern gleich durch neue deutsche ersetzt hätten. In der Zeit, als das deutsche Element die westböhmischen tschechischen Siedlungen unterwanderte, sah sich der ortsansässige Tscheche keinesfalls von „Eindringlingen“ bedroht. Er sah in den einwandernden Bayern oder Franken nie Feinde, sondern sogar Freunde, Mitstreiter im Kampf gegen Leibeigenschaft und Robot. Wer sich in Böhmen ansiedelte, wurde böhmischer Landsmann, Schicksalsgefährte und Leidensgefährte, „einer wie wir“, hieß es. Er wurde ein „Böhm“. Damals zählte der Mensch nicht als Deutscher oder als Tscheche, die Menschen trennte nicht die verschiedene Sprache, sondern der verschiedene Stand. Die Geschichte der Tauser Choden spricht es deutlich aus: Der Feind der tschechischen wie der deutschen Untertanen war der gemeinsame Bedrücker, gleich, ob er tschechisch oder deutsch oder lateinisch sprach, Krasykow oder Lamingen hieß.

Die Eindeutschung Westböhmens wurde von den angestammten tschechischen Bauern auch nicht als „aggressiver“ Akt, nicht einmal als Einmischung empfunden. Die deutschen Zuwanderer kamen ja nicht ins Böhmische, um die Eingesessenen zu vertreiben oder wegzuekeln. Sie kamen Schritt um Schritt vom Böhmerwald herunter und ackerten sich mit Genehmigung oder zumindest mit Duldung der böhmischen Herrschaft Feld um Feld böhmerländeinwärts; sie erwarben sich durch Fleiß und oft auch für Geld ihre neue Heimat, die deutsch-böhmische. Gewiß drangen die Deutschen als Eroberer böhmischen Bodens in die böhmische Geschichte ein, aber sie nahmen keinem Ansässigen etwas weg, sie „besetzten“ das noch unbewirtschaftete Niemandsland, meist das weniger fruchtbare Land zwischen den Besitzungen ihrer tschechischen Nachbarn. Sicherlich haben sich die ersten Tschechen nicht den schlechtesten Boden vorweggenommen. Die gemeinsame Not verbrüderte alt und neu in den Dörfern, es wurde mehr mit den Augen als mit dem Mund geredet, einer sah dem andern zu und ab, Einheimische und Zugereiste reichten sich die Hände zum Ehebund. Integration auf der ganzen Linie. Es liegt auf der Hand, daß das damals dünn besiedelte westböhmische Gebiet in wenigen Jahrzehnten deutsch werden mußte, wenn z. B. in einem Ort mit 4 tschechischen Häusern in kurzer Zeit 15 und mehr deutsche Höfe erstehen, muß er sein früheres slawisches Gesicht verlieren, und ein deutsches Innenleben erhalten. Denselben Vorgang in umgekehrter Richtung erlebten wir später in den Städten: Pilsen und Budweis z. B. verloren durch Unterwanderung ihre deutsche Mehrheit. Der tschechische Staat betrieb amtlich die „Rückgewinnung“ der „verdeutschten Gebiete“. Er versetzte in kleine deutsche Orte kinderreiche Staatsbeamte, errichtete dort Staatsbetriebe, in denen ausschließlich Tschechen beschäftigt wurden und brachte auf diese Weise die Sprachgrenze da und dort zu Gunsten der Tschechen in Bewegung. Er betrieb Entnationalisierungspolitik. Loyale böhmische Bürger konnten nach seiner Meinung nur „reine Tschechen“ sein, notfalls ehemalige Deutsche, die das Deutsche verlernt hätten. Welch ein Unterschied zwischen Anfang und Ende des Deutschtums in Böhmen!

Es ist erwiesen, daß die Tschechen in Böhmen niemals das Grenzgebirge besetzt hatten. Wohl hatte sich der slawische Überfluß über den Böhmerwald hinweg bewegt und in der Oberpfalz ab- und angesetzt, auf den windigen Hängen des Böhmerwaldes ist aber kein Slawe hängen geblieben und seßhaft geworden. Er hat sich sowohl in Böhmen als auch in der Oberpfalz und Oberfranken die fruchtbaren Niederungen ausgesucht. Bis ins Nab-, Schwarzach- und Pfreimttal, an die Rednitz und Regnitz und an den Regen waren einmal heimatsuchende „Windische“ (Wenden, slawische Stämme) gekommen und hatten nur ein noch schütter von Deutschen besiedeltes Gebiet angetroffen. Auch die deutschen Stämme waren ja damals „vaszierend“, die große Völkerwanderung hatte sie erfaßt und hin- und hergetrieben. Wir wissen, einige deutsche Stämme kamen, beflügelt von der Sehnsucht nach sonnigeren Landen über Italien, hinaus nach Afrika und blieben auf der Strecke. Es war ein Glück, daß bei dem Wettlauf um die Scherben des Römerreichs einige deutsche Stämme zuletzt ins Rennen und kaum mehr von der Stelle gekommen waren. Wenn diese Nachhut besser vorangekommen wäre, wäre wohl die Slawenflut bis an den Rhein vorgedrungen und es würde heute ein slawischer Keil entlang der „Mainlinie“ den deutschen Norden von Süddeutschland trennen. Auf ähnliche Weise – durch das Vordringen der Madjaren – wurden ja auch die Westslawen (Tschechen, Polen, Wenden) von den Südslawen (Serben, Slowenen, Kroaten) abgeschnitten.

Die fränkischen Stämme, die sich dem Zug nach den besseren südlichen Gefilden zu ihrem Leidwesen nur als letzte anschließen konnten, mögen lange Gesichter gemacht haben, als sie plötzlich den Zuzug aus dem Osten gewahrten, die Trecks der heimatsuchenden vertriebenen Slawen. Sie hatten bereits Böhmen überrannt, das von seinen letzten deutschen Bewohnern, den Markomannen, geräumt worden war, weil auch diese das stürzende Römerreich beerben wollten. Dennoch ist beweisbar, daß im Böhmerland noch Deutsche zurückgeblieben sein mußten, als die Tschechen in die böhmische Geschichte eingetreten waren. Die hinterbliebenen Deutsch-Böhmen waren es, die den slawischen Einwanderern die Namen der Wasser Böhmens überlieferten, so wie sie sie von ihren Vorläufern, den Kelten gehört und gelernt hatten. Das große Durcheinander, das die Völkerwanderungen in ganz Europa heraufbeschworen hatte, legte sich, als Rom in Trümmern lag. Die große Ernüchterung und die Neuorientierung in Deutschland besorgten aber die eingebrochenen slawischen Verbände. Jetzt stieg der deutsche Heimatboden wieder im Kurs. Es wurde wieder die Wildnis „gehauen“ oder „geschlagen“ oder „gebrannt“, es wurde gerodet oder gereutet, und Ried nach Ried wurde wieder nach Böhmen zu bebaut. Immer mehr fränkische und Oberpfälzer Siedlungen wuchsen dem böhmischen Wind entgegen. Tief drinnen im Böhmerwald und hoch droben auf seinen frischen Hängen feierte das deutsche Heimatgefühl Urständ. Die Heimatliebe ist nirgends so stark wie dort, wo man mit der Erde raufen muß, um satt und zufrieden zu werden.

Heimatbote, 7.1.1966